Ephräm Verklärung Christi
Über das Patrozinium der Krypta „Verklärung Christi“ in Plankstetten: Des heiligen Ephräm des Syrers ausgewählte Schriften (Bibliothek der Kirchenväter 37), Kempten 1919.
Rede über die Verklärung Christi von Ephräm dem Syrer (um 306-373)
„Und nach sechs Tagen nahm er den Petrus, Jakobus und Johannes, dessen Bruder, auf einen sehr hohen Berg und ward vor ihnen verklärt. Sein Angesicht leuchtete wie die Sonne, seine Kleider aber wurden weiß wie das Licht“ (Mt 17,1f.). Die Männer, von denen er gesagt hatte, dass sie den Tod nicht kosten würden, bevor sie das Vorbild seiner Ankunft geschaut hätten, sind diejenigen, die er mitnahm und auf den Berg führte. Er zeigte ihnen, wie er am Jüngsten Tage in der Herrlichkeit seiner Gottheit und im Körper seiner Menschheit kommen werde. Er führte sie auf den Berg, um ihnen zu zeigen, wer der Sohn sei und wessen Sohn er sei. Denn als er sie fragte: „Für wen geben die Leute mich, den Menschensohn, aus?“ antworteten sie ihm: „Die einen für den Elias, die anderen für den Jeremias oder für einen der Propheten.“ Daher führte er sie auf den Berg und zeigte ihnen, dass er nicht der Elias sei, sondern der Gott des Elias; dass er auch nicht der Jeremias sei, sondern jener, der den Jeremias im Mutterleibe geheiligt hat; dass er auch keiner der Propheten sei, sondern der Herr der Propheten, der sie gesandt hat. Er zeigte ihnen auch, dass er der Schöpfer des Himmels und der Erde und der Herr der Lebenden und der Toten sei. Denn er gebot dem Himmel, und dieser ließ den Elias herabkommen; er winkte der Erde, und diese erweckte den Moses. Er führte sie auf den Berg, um ihnen zu zeigen, dass er Gottes Sohn sei, der vor aller Zeit vom Vater erzeugt wurde, am Ende der bestimmten Zeit aus der Jungfrau Fleisch annahm und, wie er selbst wusste, ohne Zeugung und auf unaussprechliche Weise geboren wurde, indem er die Jungfrauschaft [seiner Mutter] unversehrt bewahrte. Denn wo Gott will, wird die Ordnung der Natur überwunden. Gott, das Wort, wohnte im Schoße der Jungfrau selbst, und doch verbrannte das Feuer seiner Gottheit die Glieder des Leibes der Jungfrau keineswegs, sondern er bewahrte sie die Zeit der neun Monate hindurch unverletzt. Er wohnte im Mutterschoße der Jungfrau und ekelte sich nicht an dem Gestank der Natur. Er trat aus ihr als fleischgewordener Gott hervor, um uns zu erlösen.
Er führte sie auf den Berg, um ihnen die Herrlichkeit der Gottheit zu zeigen und ihnen kund zu tun, dass er der Erlöser Israels sei, wie er es durch die Propheten geoffenbart hatte, damit sie nicht an ihm Anstoß nähmen, wenn sie seine freiwilligen Leiden sähen, die er als Mensch für uns erdulden würde. Sie kannten ihn nämlich nur als Menschen und wussten nicht, dass er Gott sei. Sie kannten ihn als den Sohn Mariens, als einen Menschen, der mit ihnen in der Welt umherwandelte, aber auf dem Berge tat er ihnen kund, dass er Gottes Sohn und Gott sei. Sie sahen ihn essen und trinken, müde werden und ausruhen, schläfrig werden und schlafen, sich fürchten und schwitzen. All dies entsprach nicht der Natur seiner Gottheit, sondern nur seiner Menschheit. Daher führte er sie auf den Berg, damit der Vater ihn den Sohn nenne und ihnen zeige, dass er in Wahrheit sein Sohn und Gott sei.
Er führte sie auf den Berg und zeigte ihnen sein Reich vor seinem Leiden und seine Macht vor seinem Tode und seine Herrlichkeit vor seiner Beschimpfung und seine Ehre vor seiner Entehrung, damit sie, wenn er von den Juden gefangen und gekreuzigt würde, erkennen möchten, dass er nicht aus Schwäche gekreuzigt worden sei, sondern aus freiem Willen, weil es ihm so gefiel, zum Heile der Welt. Er führte sie auf den Berg und zeigte ihnen vor der Auferstehung die Herrlichkeit seiner Gottheit, damit sie, wenn er in der Herrlichkeit seiner göttlichen Natur vom Tode erstanden wäre, erkennen möchten, dass er die Herrlichkeit nicht zur Belohnung seines Leidens erhalten habe, als ob er ihrer bedurft hätte, sondern dass sie schon vor aller Zeit mit dem Vater und bei dem Vater sein eigen gewesen sei, wie er ja selbst, als er in das freiwillige Leiden ging, sagte: „Vater, verherrliche mich mit der Herrlichkeit, die ich bei Dir hatte, ehe die Welt war!“ (Joh 17,5) Diese unsichtbare und in der Menschheit verborgene Herrlichkeit seiner Gottheit zeigte er den Aposteln auf dem Berge; denn sie sahen sein Angesicht leuchten wie einen Blitz und seine Kleider weiß wie das Licht. Zwei Sonnen erblickten dort die Jünger: eine am Himmel, wie gewöhnlich, und noch eine auf ungewöhnliche Weise, eine, die ihnen allein schien, nämlich sein Angesicht. Seine Kleider aber zeigte er weiß wie Licht, weil aus seinem ganzen Körper die Herrlichkeit seiner Gottheit hervorquoll und sein Licht allen seinen Gliedern entstrahlte; denn nicht wie bei Moses leuchtete nur äußerlich sein Fleisch in hellem Glanze, sondern die Herrlichkeit seiner Gottheit quoll aus ihm hervor. Sein Licht ging auf und blieb in ihm gesammelt, es ging nirgend anderswohin und verließ ihn nicht. Es kam ja auch nicht von anderswoher, um ihn zu verklären; es war ihm nicht etwa zu zeitweiligem Gebrauche geliehen. Er zeigte auch nicht das ganze unergründliche Meer seiner Herrlichkeit, sondern nur soviel ihre Augensterne zu fassen vermochten. […] Die Propheten freuten sich, weil sie seine Menschheit sahen, die sie bisher nicht gekannt hatten. Es freuten sich aber auch die Apostel, weil sie die Herrlichkeit seiner Gottheit schauten, die sie nicht gekannt hatten, und die Stimme des Vaters hörten, die dem Sohne Zeugnis gab. Durch diese erkannten sie auch seine Menschwerdung, welche ihnen bisher dunkel war, und nebst der Stimme des Vaters überzeugte sie die sichtbare Herrlichkeit seines Leibes, die eine Wirkung der in ihm ohne Verwandlung und ohne Vermischung vereinigten Gottheit war. Das Zeugnis dreier wurde besiegelt durch die Stimme des Vaters und durch Moses und Elias, die ihn als Diener umstanden. Die Apostel und Propheten sahen einander an; es erblickten sich dort die Führer des Alten und des Neuen Bundes: der hl. Moses sah den geheiligten Simon [Petrus], der Verwalter des Vaters den Verwalter des Sohnes. Jener spaltete einst das Meer, damit das Volk mitten durch die Wogen ziehen konnte; dieser errichtete eine Hütte, um die Kirche zu bauen. Der Jungfräuliche des Alten Bundes sah den Jungfräulichen des Neuen Bundes, Elias den Johannes, der den feurigen Wagen bestieg jenen, der an die Brust des Feuers hinsank. Der Berg wurde zum Vorbilde der Kirche, und Jesus vereinigte auf ihm die beiden Testamente, welche die Kirche erhielt, und tat uns kund, dass er der Spender beider sei. Das eine empfing seine Geheimnisse, das andere offenbarte die Herrlichkeit seiner Taten.
Simon sagte: „Gut ist es für uns, hier zu sein, o Herr!“ (Mt 17,4) O Simon, was sagst du da? Wenn wir hier bleiben, wer erfüllt dann die Weissagung der Propheten? Wer besiegelt dann die Worte der Herolde? Wer bringt dann die Geheimnisse der Gerechten zur Vollendung? Wenn wir hier bleiben, an wem erfüllt sich dann das Wort: „Sie haben meine Hände und Füße durchgraben“ (Ps 21,17)? Auf wen trifft dann zu: „Sie haben meine Kleider unter sieh verteilt und über mein Gewand das Los geworfen“ (Ps 21,19)? Wem wird dann dies begegnen: „Sie gaben mir Galle zur Speise, und für meinen Durst ließen sie mich Essig trinken“ (Ps 68,22)? Wer erfährt dann an sich die Benennung: „Frei unter den Toten“ (Ps 87,6)? Wenn wir hierbleiben, wer zerreißt dann die Handschrift Adams (Kol 2,14), und wer tilgt seine Schuld? Wer gibt ihm dann das Gewand der Herrlichkeit zurück? Wenn wir hierbleiben, wie soll dann geschehen, was ich dir gesagt habe? Wie soll dann die Kirche gebaut werden? Wie wirst du dann von mir die Schlüssel des Himmelreichs bekommen? Wen wirst du dann binden, wen lösen? Wenn wir hierbleiben, wird alles, was durch die Propheten gesagt wurde, ohne Erfüllung bleiben.
Simon sagte ferner: „Lasst uns hier drei Hütten errichten, dir eine, dem Moses eine und dem Elias eine!“ (Mt 17,4) Simon war gesandt, die Kirche in der Welt zu bauen, und er will Hütten auf dem Berge errichten. Er sah nämlich noch immer in Jesus nur einen Menschen und stellte ihn neben Moses und Elias. Deshalb zeigte ihm der Herr, dass er seines Gezeltes nicht bedürfe; denn er war es ja, der seinen Vätern in der Wüste vierzig Jahre hindurch ein Wolkenzelt errichtet hatte. Denn „als sie noch redeten, siehe, da überschattete sie eine Lichtwolke“ (Mt 17,5). Siehst du, Simon, das ohne Arbeit errichtete Zelt? Ein Zelt, das die Hitze abhält und kein Dunkel an sich hat? Ein Zelt, das blitzt und leuchtet? Während die Jünger staunten, vernahm man aus der Wolke eine Stimme vom Vater, die sprach: „Dies ist mein geliebter Sohn, an dem ich mein Wohlgefallen habe; ihn höret!“ (Mt 17,5) Bei diesem Rufe des Vaters kehrte Moses an seinen Ort zurück und Elias in sein Land; die Apostel aber fielen auf ihr Angesicht zur Erde nieder: Jesus stand allein da, weil jener Ruf nur ihm allein galt. Die Propheten flohen, und die Apostel fielen zu Boden; denn ihnen galt der Ruf des Vaters nicht, der bezeugte: „Dies ist mein geliebter Sohn, an dem ich mein Wohlgefallen habe; ihn höret!“ Der Vater belehrte sie, dass die Verwaltung des Moses vorüber sei und dass sie nun auf den Sohn hören sollten. Denn jener redete als Diener, was ihm befohlen war, und verkündete, was ihm gesagt worden war (Hebr 3,5), und ebenso alle Propheten, bis endlich kam, was aufbewahrt war, nämlich Jesus. Dieser ist Sohn, nicht Knecht; Herr, nicht Diener; Herrscher, nicht Untergebener; Gesetzgeber, nicht Untertan. Nach seiner göttlichen Natur ist „dieser mein geliebter Sohn“. Den Aposteln offenbarte der Vater auf dem Berge, was ihnen unbekannt war. Der Seiende (Ex 3,14) offenbarte den Seienden, der Vater den Sohn. Bei diesem Ruf fielen die Apostel auf ihr Angesicht zur Erde nieder. Denn es war ein furchtbarer Donner, so dass von seinem Schall die Erde erzitterte und sie zu Boden stürzten. Der Donner zeigte ihnen an, dass der Vater nahe sei; dann rief sie der Sohn mit seiner Stimme und machte sie aufstehen (Mt 17,7). Wie nämlich die Stimme des Vaters sie niederwarf, so richtete sie die Stimme des Sohnes durch die Macht seiner Gottheit auf, welche in seinem Fleische wohnt und mit demselben ohne Verwandlung vereinigt ist, indem beide in einer Hypostase und in einer Person unzerteilt und unvermischt verbleiben. Er war nicht wie Moses nur äußerlich glänzend, sondern er strahlte als Gott in Herrlichkeit. Denn Moses wurde nur an der Oberfläche seines Gesichtes mit Glanz gesalbt, Jesus aber leuchtete am ganzen Leibe durch die Herrlichkeit seiner Gottheit, wie die Sonne durch ihre Strahlen.
Der Vater rief: „Dies ist mein geliebter Sohn, an dem ich mein Wohlgefallen habe, ihn höret!“ Der Sohn ist von der Herrlichkeit der Gottheit nicht getrennt; denn eine Natur sind der Vater und der Sohn mit dem Heiligen Geist, eine Kraft, eine Wesenheit und eine Herrschaft. Auf einen nur ließ er die Stimme ertönen, mit einem schlichten Namen und zugleich mit furchtbarer Herrlichkeit. Auch Maria nannte ihn Sohn, der durch den menschlichen Leib von der Herrlichkeit seiner Gottheit nicht getrennt ist; denn der eine Gott ist es, der im Fleische in der Welt erschien. Seine Herrlichkeit offenbarte seine göttliche Natur aus dem Vater, und sein Leib offenbarte seine menschliche Natur aus Maria, und zwar beide Naturen verbunden und vereinigt in eine Hypostase. […] Seine Werke bezeugen es, und seine göttlichen Wundertaten belehren die Verständigen, dass er wahrer Gott ist, und seine Leiden beweisen, dass er wahrer Mensch ist. […] Wenn er nicht Fleisch war, wozu wurde dann Maria ins Mittel gezogen? Und wenn er nicht Gott war, wen nannte dann Gabriel Herr? Wenn er nicht Fleisch war, wer lag dann in der Krippe? Und wenn er nicht Gott war, wen priesen dann die herabgestiegenen Engel? Wenn er nicht Fleisch war, wer wurde dann in Windeln eingewickelt? Und wenn er nicht Gott war, wen beteten dann die Hirten an? Wenn er nicht Fleisch war, wen beschnitt dann Joseph? Und wenn er nicht Gott war, zu wessen Ehre eilte dann der Stern am Himmel dahin? Wenn er nicht Fleisch war, wen säugte dann Maria? Und wenn er nicht Gott war, wem brachten dann die Magier Geschenke dar? Wenn er nicht Fleisch war, wen trug dann Simeon auf den Armen? Und wenn er nicht Gott war, zu wem sagte dann dieser: „Entlass mich nun in Frieden!“? Wenn er nicht Fleisch war, wen nahm dann Joseph und floh nach Ägypten? Und wenn er nicht Gott war, an wem ging dann das Wort in Erfüllung: „Aus Ägypten berief ich meinen Sohn“? (Os 11,1; Mt 2,15) Wenn er nicht Fleisch war, wen taufte dann Johannes? Und wenn er nicht Gott war, zu wem sprach dann der Vater vom Himmel herab: „Dies ist mein geliebter Sohn, an dem ich mein Wohlgefallen habe!“? Wenn er nicht Fleisch war, wer fastete und hungerte dann in der Wüste? Und wenn er nicht Gott war, zu wem stiegen dann die Engel herab, um ihn zu bedienen? Wenn er nicht Fleisch war, wer wurde dann zur Hochzeit nach Kana in Galiläa eingeladen? Und wenn er nicht Gott war, wer verwandelte dann das Wasser in Wein? Wenn er nicht Fleisch war, in wessen Händen lagen dann die Brote? Und wenn er nicht Gott war, wer sättigte dann in der Wüste mit fünf Broten und zwei Fischen die Scharen, die, ohne die Frauen und die Kinder zu rechnen, Tausende betrugen? Wenn er nicht Fleisch war, wer schlief dann im Schiffe? Und wenn er nicht Gott war, wer schalt dann die Winde und das Meer? Wenn er nicht Fleisch war, mit wem speiste dann Simon, der Pharisäer? Und wenn er nicht Gott war, wer verzieh dann die Vergehen der Sünderin (vgl. Lk 7,36 und Mt 26,6)? Wenn er nicht Fleisch war, wer saß dann, von der Reise ermüdet, auf dem Brunnen? Und wenn er nicht Gott war, wer gab dann der Samariterin lebendiges Wasser und warf ihr vor, fünf Männer gehabt zu haben? Wenn er nicht Fleisch war, wer trug dann die Kleider eines Menschen? Und wenn er nicht Gott war, wer wirkte dann die Kräfte und Wunder? Wenn er nicht Fleisch war, wer spuckte dann auf die Erde und bereitete Lehm? Und wenn er nicht Gott war, wer zwang dann durch den Lehm die Augen zum Sehen (Joh 9,6)? Wenn er nicht Fleisch war, wer weinte dann am Grabmal des Lazarus? Und wenn er nicht Gott war, wer rief dann den seit vier Tagen Toten gebietend aus demselben heraus? Wenn er nicht Fleisch war, wer saß dann auf dem Fohlen? Und wenn er nicht Gott war, wem zogen dann die Scharen mit Lobgesang entgegen? Wenn er nicht Fleisch war, wessen bemächtigten sich dann die Juden? Und wenn er nicht Gott war, wer gebot dann der Erde und warf sie [die Häscher] dadurch auf ihr Angesicht nieder? Wenn er nicht Fleisch war, wer wurde dann mit dem Backenstreich geschlagen? Und wenn er nicht Gott war, wer heilte dann das von Petrus abgehauene Ohr wieder an seine Stelle an? Wenn er nicht Fleisch war, wessen Antlitz wurde dann angespien? Und wenn er nicht Gott war, wer hauchte dann den Aposteln den Heiligen Geist ins Angesicht? Wenn er nicht Fleisch war, wer stand dann im Gerichtshause vor Pilatus? Und wenn er nicht Gott war, wer erschreckte dann die Gemahlin des Pilatus im Traum (Mt 27,19)? Wenn er nicht Fleisch war, wessen Kleider zogen dann die Soldaten aus und verteilten sie? Und wenn er nicht Gott war, wie wurde dann die Sonne bei der Kreuzigung verfinstert? Wenn er nicht Fleisch war, wer hing dann am Kreuz? Und wenn er nicht Gott war, wer erschütterte dann die Grundfesten der Erde? Wenn er nicht Fleisch war, wessen Hände und Füße wurden dann mit Nägeln angeheftet? Und wenn er nicht Gott war, wie zerriss dann der Vorhang des Tempels, spalteten sich die Felsen und öffneten sich die Gräber? Wenn er nicht Fleisch war, wer rief dann: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ Und wenn er nicht Gott war, wer sagte dann: „Vater, verzeihe ihnen!“? Wenn er nicht Fleisch war, wer hing dann mit den Schächern am Kreuz? Und wenn er nicht Gott war, wie konnte er dann zum Schächer sagen: „Heute wirst du mit mir im Paradiese sein“? Wenn er nicht Fleisch war, wem reichte man dann Essig und Galle? Und wenn er nicht Gott war, wessen Stimme hörte dann die Unterwelt und erbebte? Wenn er nicht Fleisch war, wessen Seite durchbohrte dann die Lanze, so dass Blut und Wasser herauskam? Und wenn er nicht Gott war, wer zertrümmerte dann die Pforten der Unterwelt und zerbrach die Fesseln, und auf wessen Geheiß kamen dann die eingekerkerten Toten hervor? Wenn er nicht Fleisch war, wen sahen dann die Apostel im Obergemach? Und wenn er nicht Gott war, wie kam er dann bei verschlossenen Türen hinein? Wenn er nicht Fleisch war, in wessen Händen betastete dann Thomas die Wundmale der Nägel und in wessen Seite das Mal der Lanze? Und wenn er nicht Gott war, wem rief dann dieser zu: „Mein Herr und mein Gott!“? Wenn er nicht Fleisch war, wer aß dann am See von Tiberias? Und wenn er nicht Gott war, auf wessen Gebot füllte sich dann das Netz (Joh 21,1f.)? Wenn er nicht Fleisch war, wen sahen dann die Apostel und die Engel in den Himmel aufgenommen werden? Und wenn er nicht Gott war, wem öffnete sich dann der Himmel, wen beteten dann die Mächte zitternd an und wen forderte dann der Vater auf: „Setze dich zu meiner Rechten!“, wie auch David sagt: „Es sprach der Herr zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten usw.“ (Ps 109,1)?
Wenn er nicht Gott und Mensch war, dann ist unsere Erlösung nur Lüge und sind die Aussprüche der Propheten Lügen; aber die Propheten redeten die Wahrheit, und ihre Zeugnisse sind ohne Trug. Was sie sagen mussten, das redete der Heilige Geist durch sie. Daher belehrte uns auch der keusche Johannes, der an der Brust des Feuers lag, die Stimmen der Propheten bekräftigend, von Gott in den Evangelien sprechend, also: „Im Anfange war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Alles ist durch dasselbe gemacht worden, und nichts, was gemacht wurde, ist ohne dasselbe gemacht worden. Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.“ Der aus Gott ist, Gott das Wort, der eingeborene Sohn aus dem Vater, wesensgleich mit dem Vater, das ewige Wort, das da ist aus dem, der ist, vor allen Zeiten auf unaussprechliche Weise ohne Mutter aus dem Vater gezeugt: eben dieser wurde am Ende [der bestimmten Zeit] aus einer Menschentochter, aus Maria, der Jungfrau, ohne Vater geboren. Der fleischgewordene Gott nahm von ihr das Fleisch an und wurde Mensch, was er vorher nicht war, blieb aber Gott, was er war, um die Welt zu erlösen. Dies ist Christus, der Sohn Gottes, der Eingeborene aus dem Vater und der Eingeborene aus der Mutter. Ich bekenne ihn als vollkommenen Gott und als vollkommenen Menschen, der in den zwei hypostatisch oder zu einer Person vereinigten Naturen erkannt wird, und zwar ohne Trennung, ohne Vermischung und ohne Verwandlung, der Fleisch annahm, das durch eine vernünftige und verständige Seele belebt war, und der uns in allem, nur die Sünde ausgenommen, der menschlichen Natur nach gleich geworden ist. Er ist zugleich irdisch und himmlisch, zeitlich und ewig, beschränkt und unbeschränkt, zeitlos und der Zeit unterworfen, erschaffen und unerschaffen, leidend und leidensunfähig, Gott und Mensch, und zwar in beiderlei Hinsicht vollkommen, einer in zweien und in zweien einer. Es ist eine Person des Vaters und eine Person des Sohnes und eine Person des Heiligen Geistes. Es ist eine Gottheit, eine Macht, eine Herrschaft in drei Personen oder Hypostasen. In dieser Weise sollen wir die heilige Einheit in der Dreiheit und die heilige Dreiheit in der Einheit verherrlichen, indem der Vater vom Himmel herabgerufen hat: „Dies ist mein geliebter Sohn, ihn höret!“ Diese Lehre nahm die heilige katholische Kirche Gottes an, in dieser heiligen Dreiheit tauft sie zum ewigen Leben, diese [die heilige Dreiheit] preist sie mit gleicher Ehrenbezeugung heilig, diese bekennt sie als unzerteilt und ungetrennt, betet sie ohne Irrtum an, bekennt und verherrlicht sie. Dieser dreipersönlichen Einheit gebührt Lob, Danksagung, Ehre, Macht, Verherrlichung: dem Vater und dem Sohne und dem Heiligen Geiste, jetzt und allezeit und in alle Ewigkeiten.
Amen.